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Du bist selbst schuld, wenn du krank wirst

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Die Kunst des Lebens erfordert die Kunst des Sterbens. Zur Kunst des Lebens gehört es, Leid, Krankheit und Tod nicht zu verdrängen, sondern annehmen zu können. Leid, Krankheit und Tod sind ein natürlicher Teil des Lebens. Dies hat unsere heutige Gesellschaft mittlerweile verlernt. Früher war das anders: Im 14. Jahrhundert, als die Pestwelle durch Europa wanderte, wurden die Menschen stark mit ihrer Sterblichkeit und dem Leid konfrontiert. Der Tod lauerte hinter jeder Tür. Er bevorzugte und verschonte niemanden. Jeder, ob jung oder alt, reich oder arm, schön oder hässlich, konnte jederzeit unerwartet vom Tod geholt werden. Vor dem Tod sind alle gleich. Man kann ihm nicht ausweichen, jeder muss sterben. Die Menschen akzeptierten den Tod und erinnerten sich stets an ihre eigene Sterblichkeit. «Memento mori», lat. «Sei dir der Sterblichkeit bewusst», wurde zu ihrem Ausdruck. Sie wussten, dass sie jederzeit mit dem Tod rechnen mussten. Statt mit Verzweiflung auf diese Tatsache zu reagieren, hielten sie Totentänze, um den Tod angemessen zu feiern. Für sie war es natürlich, krank zu sein, zu leiden und zu sterben.

 

Hauptsache gesund

Dieser Umgang mit Krankheiten ging verloren. Während es damals normal war, krank zu sein, zu leiden und an Nichtigkeiten zu sterben, ist dies heute die Ausnahme. Die Krankheit wurde zur Abnormalität, die Gesundheit zur Norm. Grund für diesen Wandel waren die grossen medizinischen Fortschritte des 19. Jahrhunderts. Die Medizin kann den Körper nun mit Medikamenten und Operationen heilen. Sie ersetzte die Heilkünste und wurde zur Heiltechnik. Krankheiten sind keine unabdingbaren Schicksalsschläge mehr, sondern können durch gezielte Methoden kuriert werden. Dadurch wird die Gesundheit des Menschen nicht nur zum Ziel, sondern auch zum Normalzustand. Die Menschen streben ein Leben in Gesundheit an, während sie gleichzeitig davon ausgehen, dass der Mensch von Natur aus gesund ist. Gesundheit scheint heute selbstverständlich zu sein. Sie wird ein prinzipiell totalitärer Anspruch, was bedeutet, dass alles, was davon abweicht, defizitär ist. Ein Leben in Krankheit wird weniger sinnhaft und weniger lebenswert.

 

Sein Krebs ist seine Schuld

Mittlerweile geht es nicht nur darum, bestehende Krankheiten zu heilen, sondern ihr künftiges Auftreten sogar zu vermeiden. Die Heilung tritt in den Hintergrund, die Vorsorge und das Risikomanagement rücken in den Vordergrund. Das Ziel ist es, dass es gar nicht erst zur Krankheit kommt. Genaue Analysemethoden erkennen genetisch bedingte Krankheitsveranlagungen schon bevor Symptome austreten. Im Idealfall können so Krankheiten behandelt werden, die sich noch nicht manifestiert haben. Diese Art der Vorsorgebehandlung wird beispielsweise bei Verdacht auf Brustkrebs angewandt, wo schon vor Eintritt der Krankheit eine Operation präventiv durchgeführt wird. Doch auch mit seiner Lebensweise muss der Mensch mittlerweile Krankheiten vorbeugen. Er soll Sport machen, auf seine Ernährung achten, auf Suchtmittel wie Alkohol und Nikotin verzichten, sozial eingebunden sein und Stress reduzieren. Der Mensch ist nun selbst für seine Gesundheit zuständig. Er muss andauernd daran arbeiten, gesund zu bleiben. Gesundheit wird zu einem erstrebenswerten Zustand, der stets erreicht werden kann. Falls er krank wird, muss er sich damit konfrontieren, ob er alles menschenmögliche getan hat, um das Kranksein zu verhindern. Er trägt nun die Verantwortung für sein Gesundbleiben und das Kranksein deutet auf sein Versagen hin. Früher war Gott der Strafende, der den Menschen die Krankheiten schickt, um sie zu auf die Probe zu stellen und zu erziehen, heute straft sich der Mensch selbst. Der Mensch trägt selbst die Schuld für sein Kranksein, sein Leiden und seinen frühen Tod. Kurzgesagt: Sein Krebs ist seine Schuld.

 

So einfach ist es nicht

Diese Auffassung von Krankheit verharmlost ihre Komplexität. Krankheiten müssen nicht immer eintreten, nur weil eine Veranlagung vorhanden ist und sie sind auch nicht auf einzelne Ursachen zurückzuführen. Es wird der Krankheit nicht gerecht, sie als so eindimensional und vermeidbar darzustellen. Denn bei den meisten Krankheiten handelt es sich um multifaktorielle, also hochkomplexe Krankheiten. Der Mensch kann unmöglich für alle diese Faktoren allein verantwortlich gemacht werden, vor allem, wenn man bedenkt, dass manchmal Prävention keinen Einfluss hat. Trotzdem ist es wichtig, dass der Mensch Sorge zu seiner Gesundheit trägt. Doch er soll eine Teilverantwortung, statt eine Totalitärverantwortung tragen. Der Mensch soll zwischen Risiken abwägen können und lernen, einen verantwortungsvollen Umgang mit Ungewissheiten zu haben. Die Möglichkeit, zu erkranken, muss wieder ins Leben integriert werden. Menschen müssen lernen, mit dem Kranksein umgehen zu können, statt diesen Zustand aus dem Leben verbannen zu wollen. Eine Sensibilisierung für die Verletzlichkeit, Verwundbarkeit, Schwäche, sowie Schutzlosigkeit und Abhängigkeit des Menschen wäre dabei notwendig. Diese Vulnerabilität des Menschen sollte nicht als defizitär, sondern als dem Menschen zugehörig betrachtet werden. Schliesslich gehört das Kranksein, Leiden und Sterben nun einmal zum Menschsein dazu.


Bild: Gemälde von Henri Gervex «Avant l'Opération». 1887 in Paris.

 
 
 

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