Egoistische Frauen und falsche Fürsorge
- Phoenix Fawkes

- 5. Juni 2022
- 7 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 2. Juni 2024

Als ich 16 Jahre alt war, sass ich mit meinen Schulkollegen im Zeichnungszimmer und malte vor mich hin. Ich trug einen silbernen Ring, den ich voller Freude in den Sommerferien gekauft hatte, auf dem «I <3 ME» stand. Meiner Schulkollegin fiel der Ring auf und sie lachte darüber. Als ich aufschaute, um zu sehen, weshalb sie lachte, sagte sie ungläubig: «OMG, hast du tatsächlich einen Ring an, auf dem I <3 ME steht?!». Ich schaute sie verunsichert an, unklar worin das Problem lag. Ihre Bemerkung hatte die Aufmerksamkeit der anderen am Tisch geweckt. Sie schauten nun alle meinen Ring an und lachten. Ein weiterer Schulkollege fragte mich, ob ich denn zu dieser Aussage stehe, die auf dem Ring geschrieben stand: «Liebst du dich echt?!». Darüber hatte ich noch nie nachgedacht. Ich hatte nie ein Problem damit, ich zu sein – im Gegenteil, ich bin gerne ich. Ich mochte mich. Ist es Liebe? Mag ich mich so sehr, wie ich meine Familie mag? Ja, merkte ich. Es ist wohl Liebe. Also antwortete ich ihm, noch immer unsicher und deutlich blossgestellt: «Ja, ich liebe mich.» Meine Schulkollegen schauten mich so schockiert an, als hätte ich ihnen gerade mein grösstes Geheimnis erzählt und lachten dann gemeinsam über meine Aussage. «Du bist ja mega selbstverliebt», meinte einer und ab diesem Moment war für alle klar, dass ich nicht nur selbstverliebt bin, sondern bald auch noch arrogant und irgendwann schliesslich auch narzisstisch. Sie mochten mich, doch sie mochten nicht, dass ich mich selbst ebenfalls mochte. Ich schämte mich so sehr darüber, nicht gemerkt zu haben, dass es schlimm ist, solch einen Ring zu tragen. Ich schämte mich, dass alle sahen, dass ich diesen Ring trug. Doch am meisten schämte ich mich, dass alle sich einig waren, dass ich selbstverliebt sei. Nach der Stunde zog ich den Ring ab und versteckte ihn zuunterst in meiner Schultasche. Ich trug ihn nie wieder. Als ich nachts im Bett lag, fragte ich mich, ob es ihnen lieber wäre, wenn ich mich stattdessen hassen würde. Wäre das normaler?
Meine Eltern erzogen meine Geschwister und mich zu selbstbewussten Menschen mit einem guten Selbstwert. Schon als ich im Kindergarten war und meine neue Zeichnung nach Hause brachte, an der ich den ganzen Morgen voller Konzentration gewerkelt hatte, meinte meine Mutter immer: «Wow, das hast du gut gemacht! Schau mal, wie schön das geworden ist. Hast du das alles allein gemacht?» Ich nickte stolz. «Geh und zeige Papi, wie gut du deine Zeichnung gemacht hast!». Daraufhin sprang ich aufgeregt zu Papi und sagte: «Schau Papi, wie gut ich gezeichnet habe!». Ich lernte nicht nur, dass ich Dinge gut kann, sondern auch, dass ich laut und vor anderen sagen konnte, dass ich etwas gut kann oder sogar die Beste war. Gleichzeitig lernte ich auch, dazu zu stehen, wenn ich etwas nicht gut kann. Durch die liebevolle Erziehung meiner Eltern erlangte ich ein gesundes Selbstbewusstsein und wusste schon früh, wer ich bin und was ich kann. Dafür bin ich bis heute sehr dankbar, obwohl ich schnell bemerkte, dass sich unsichere Menschen von selbstbewussten Menschen bedroht fühlen. Dies zeigte sich vor allem in der Pubertät.
Von einer Frau, vor allem einer jungen Frau, wird erwartet, sich klein zu machen. Sie darf keine eigene Meinung haben. Sie darf nicht für sich selbst einstehen. Sie darf nicht Komplimente annehmen, ohne zugleich welche zurückzugeben. Sie darf nicht sagen «Ich kann das!» und am allerwenigsten darf sie sagen, «Ich war die Beste!». Eine junge Frau darf nicht wissen, wer sie ist und was sie kann, und sie darf vor allem nicht selbstbewusst sein, sonst ist sie arrogant oder von sich eingenommen. Unsere Gesellschaft fühlt sich wohler, wenn man sich selbst hasst, als wenn man sich selbst liebt. Eine junge Frau, die sich selbst liebt, ist einschüchternd. Sie verlangt danach, Platz am Tisch zu bekommen. Ihr ist egal, was andere Menschen von ihr denken, da ihr nur wichtig ist, was sie über sich selbst denkt. Sie gibt sich nicht zufrieden mit dem Minimum, denn sie will, was ihr zusteht. Sie schaut zuerst dafür, dass es ihr gut geht, bevor sie sich um die Bedürfnisse anderer kümmert. Eine junge, selbstbewusste Frau wirkt bedrohlich für alle Menschen, die nicht selbstbewusst sind, denn sie fragen sich: Was sieht sie in sich selbst und weshalb sehe ich dasselbe nicht in mir?
Franziska Schutzbach erwähnt in ihrem Buch Die Erschöpfung der Frauen. Wider die weibliche Verfügbarkeit, dass von Frauen erwartet wird, dass sie sich stets um alle anderen kümmern müssen. Fürsorge ist ein Attribut, welches weiblich sei und somit in der Natur der Frau liegen sollte. Die Frauen sollten zuerst dafür sorgen, dass es allen anderen gut geht, bevor sie sich um sich selbst kümmern dürfen. Da alle anderen immer irgendwelche Bedürfnisse haben, die zu stillen sind, haben die Frauen schlussendlich gar keine Zeit oder Energie mehr, zu sich selbst zu schauen. Das führt dazu, dass die Frauen sich selbst vernachlässigen. Sie lernten nie, sagen zu dürfen: «Nein, jetzt geht es zuerst um mich.» Immer mussten sie zurückstecken, klein bleiben, für andere da sein. Sie durften nicht für sich einstehen, nein sagen, etwas aus sich selbst machen. Die Frauen litten still und heimlich über ihren Selbstverlust und das konstante Für-Andere-Da-Sein, das stets als selbstverständlich betrachtet wurde und nie Anerkennung bekam. Gerne würden sie damit aufhören und ein Leben leben, bei dem es in erster Linie um sie selbst geht und das, was sie wollen, statt das, was andere von ihnen wollen. Doch sie getrauten sich nicht, aus diesem Gefängnis der Fürsorge auszubrechen. Die Töchter dieser Frauen jedoch trauten sich dies. Sie sahen lange genug zu, wie ihre selbstlosen Mütter litten und entschieden sich, ihr Leben anders zu führen. Sie würden zuerst schauen, dass ihr Glas halbvoll ist, bevor sie sich um das Glas anderer Leute kümmerten.
Doch statt, dass sich die Gesellschaft darüber freute, dass die Frauen endlich lernten, zuerst zu sich selbst zu schauen und erkannten, dass ihre Bedürfnisse auch wichtig sind, wurden sie dafür geächtet. Egoistisch seien sie. Nein, sogar narzisstisch, meinten andere. (Hierbei wird völlig ausser Acht gelassen, dass Narzissmus eine Persönlichkeitsstörung ist, welche sich durch eine Vielzahl an Symptomen zeigt, von Apathie über Manipulation und Grandiosität.) Frauen dürften nicht nach ihren Bedürfnissen handeln, sie dürften sich nicht zu wichtig nehmen. Frauen seien da, um Fürsorge zu praktizieren. Alles andere sei falsch. Die Männer hingegen dürfen für sich selbst schauen, die müssen sich nicht um andere kümmern. Fürsorge ist schliesslich kein männliches Attribut. Ein Mann ist es wert, dass er etwas aus seinem Leben machen darf, ungeachtet der Bedürfnisse anderer. Eine Frau nicht. «Wenn ich mich nicht um das Wohlbefinden anderer kümmere, wird mir das als kaltherzig und unweiblich ausgelegt», meinten erfolgreiche Frauen.[1] Denn nur wenige Frauen erkannten, dass Fürsorge nicht ihre Aufgabe sein muss und getrauen sich, gegen dieses angeblich weibliche Attribut vorzugehen.
Denn die meisten Frauen lernten schon als kleine Mädchen, dass sie die emotionalen Zustände und Launen anderer erspüren und deren Bedürfnisse stillen sollen. Am Schritt des Vaters, der die Treppe hochstieg, erkannten sie, ob er einen guten oder schlechten Tag hatte und was sie tun sollten, um seine Laune zu bessern. Für diese Beziehungsarbeit kriegten sie Anerkennung und Aufmerksamkeit. Ein Mädchen, welches dafür sorgt, dass es anderen gut geht, ist ein braves Mädchen. Diese Aufopferung für andere gibt den Frauen eine Identität und Selbstwert. «Ich bin fürsorglich, nett und grosszügig. Ich bin immer für andere da», erzählen sie, wenn man sie fragt, welche Eigenschaften sie an sich selbst schätzen. Es ist nichts verkehrt daran, diese Eigenschaften zu haben. Nächstenliebe ist nicht ohne Grund eines der zehn Gebote im Christentum. Ohne Fürsorge und Nächstenliebe wäre unsere Gesellschaft nicht da, wo sie heute ist. Diese Attribute sind ein wichtiges Fundament des Mensch-Seins. Darin besteht keine Frage.
Doch weshalb legen Frauen so viel Wert darauf, fürsorglich zu sein? Sind die Frauen fürsorglich, weil sie tatsächlich gerne Menschen helfen, ohne etwas dafür zurückzubekommen oder weil sie dadurch die Anerkennung bekommen, die sie sich nicht selbst geben können? Mögen sie es, sich um andere zu kümmern oder wurde sie darauf trainiert, dies zu mögen? Das sind notwendige Fragen, die die Frauen sich stellen sollen. Denn viele Frauen haben nie gelernt, dass sie auch jemand sind, der Anerkennung verdient, ohne dass sie sich um das Wohlergehen anderer kümmern müssen. Sie wissen nicht, dass es um sie selbst gehen darf und muss. Sie fühlen sich unwohl, der Mittelpunkt in ihrem Leben zu sein, wenn sie doch seit Jahren lernten, dass es nicht so sei. Wenn Frauen also sagen, «Alles, was ich will, ist, anderen Menschen zu helfen!», dann gilt es zu hinterfragen, weshalb das so ist. Wollen sie anderen Menschen helfen, weil es sich für sie nicht lohnt, sich selbst zu helfen?
Nein, würde ich also dem 16-jährigen Ich sagen. Es darf nicht normaler sein, sich selbst zu hassen, statt sich zu lieben. Sie soll ihren Ring wieder anziehen und ihrem Schulkollegen sagen: «Ja, ich liebe mich. Und ich bin froh, dass ich das tue. Dadurch, dass ich mich selbst liebe, weiss ich, was ich verdiene. Ich weiss, was ich wert bin. Meine Zukunft wird eine sein, die ich für mich allein gewählt habe. Ich werde mich nicht in eine Ecke drängen lassen, von unsicheren Menschen, die sich wohler fühlen unter ebenfalls unsicheren Menschen. Ich werde anderen ein Beispiel sein, wie eine selbstbewusste Frau mit einem guten Selbstwert aussieht – eines, wie ich es benötigt hätte. Ich werde Frauen dazu ermutigen, zuerst zu sich selbst schauen zu dürfen und etwas aus ihrem Leben zu machen. Und ich werde ihnen sagen: Liebe dich, liebe dich, liebe dich – dann werden sich andere ebenfalls getrauen, sich selbst zu lieben. Denn es ist eine Schande, dass all diese Frauen, ihr Leben nicht nach ihren Wünschen leben. Wie würde die Welt aussehen, wenn Frauen sich lieben würden; wie grossartig könnten sie sein, wenn sie sich nicht den Bedürfnissen anderer untergliedern würden; was könnten sie erreichen, wenn man sie lassen würde. Denn wie gerne würden die Frauen ihr Leben so leben, wie sie es wollen, so sorglos durch die Welt gehen können, wie es Männer können, ohne dabei gleich als egoistisch oder narzisstisch betitelt zu werden. Klar und deutlich müsste überall stehen: Eine Frau, die erkennt, dass sie es wert ist, ihr eigenes Leben zu führen, ist weder egoistisch und schon ganz bestimmt nicht narzisstisch. Stattdessen ist sie inspirierend, hat einen guten Selbstwert und ist hoffentlich die Zukunft.»
[1] Schutzbach, Franziska: Die Erschöpfung der Frauen. Wider die weibliche Verfügbarkeit. S.215.
Gemälde von Giambattista Tiepolo: «Das Bad der Diana», 1743/44 in Zurich.




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